Das Gleiche mal 2


Die Strecke von unserem Wohnort bis zum Strand unserer Wahl beträgt 294 km, die Fahrtzeit 2 Stunden 48 Minuten. Es ist Nachmittag und das Wetter bei der Abfahrt ist bewölkt, die Temperatur liegt bei 26°C, der Wind weht leicht von Südwest. Die Entourage besteht aus zwei Grundschulkindern und einem männlichen Erwachsenen mittleren Alters, alle verwandt und von stabil guter gesundheitlicher Konstitution. 32 km nach Fahrtantritt setzt Niederschlag ein, teilweise ergiebig. Die Temperatur fällt auf 17°C. Die jüngeren Fahrtteilnehmer artikulieren Bedenken in Bezug auf den erwarteten Westküsten-Sonnenuntergang, doch die Zuversicht des Erwachsenen bleibt unerschüttert. Nach 1 Stunde und 28 Minuten ändert sich die Fahrtrichtung von Nord auf Westnordwest, der Niederschlag ist gleichbleibend. Eine halbe Stunde später, keine 60 km vom Zielort entfernt, entdecken alle Teilnehmer fast zeitgleich den sich erhellenden westlichen Horizont. Dies wird von allen, besonders aber den Infanten, als positives Signal bezüglich des erwarteten Verlaufs der Unternehmung gewertet und gereicht dem Erwachsenen zum Anlaß, ein leicht alkoholhaltiges Getränk zu konsumieren. Beim Eintreffen am Zielort hat sich die Wolkendecke vollständig gen Osten verzogen, die Sonne scheint in einem niedrigen Winkel auf trockenen Boden. Die Temperatur liegt bei über 20°C, der westliche Wind ist aufgefrischt. Beim Passieren des Dünengürtels ist Flugsand in Bewegung, die Höhe der Wellendünung beträgt ca. einen Meter. Der niedrige Einstrahlungswinkel der Sonne, der wehende Sand, die Gischt der Wellen, die Geräusche der Brandung und der über 15 km weit reichende Blick über den 200 m breiten Strand bilden eine Komposition, die zu intensiven emotionalen Empfindungen der Teilnehmer führt.


Es ist ein heißer und stickiger Tag, darum fahren wir erst am Nachmittag los. Ich bin getrieben von einer Vision von feinstem Nordseestrandleben. Es gelingt mir, den Kindern ein Bild in die Köpfe zu zaubern von einer im Meer versinkenden Sonne, von großen, tosend brechenden Wellen, die ihren Ursprung an den Küsten ferner Welten haben. Von haushohen Dünen mit windgeschützten Mulden, in denen wir schlafen werden, nur umgeben von romantisch wilder Natur. Dann beginnt schon nach kurzer Fahrt der Regen. Ich bin innerlich fassungslos. Nach drei Wochen Hitzewelle muss es ausgerechnet an diesem besonderen Tag schütten wie aus Eimern. Die Kids murren, meine Tochter tröstet mich sogar, mein Sohn erwähnt beiläufig seine heimische PlayStation. Da fällt mir schlagartig dieses Mysterium mit dem Wetter und der Westküste ein und meine Zuversicht ist wieder da. „Ihr werdet euch wundern, denn da, wo wir hinfahren, scheint die Sonne!“ Ich ernte Unglauben, aber meine Entschlossenheit beendet jede Widerrede. Noch eine halbe Stunde hat mein Traum Zeit um wahr zu werden. Und da passiert es: Der Schalter von nass auf trocken wird von Geisterhand umgelegt und Richtung Küste schauen wir ungläubig auf den roten Sonnenhimmel. Ich bekomme plötzlich großen Durst.
Noch wenige Sekunden, dann haben wir freien Blick auf den Strand. Keiner sagt was, wir lauschen auf das magische Donnern der Brandung. Die Sonne steht so tief, dass sich uns ein wahrhaft überirdisch schönes Schauspiel bietet. Es ist warm, der Sand weht über den Dünen, die Wellen brechen mit weissen Kämmen. Der Blick reicht bis in die Unendlichkeit. Ergriffen nehmen wir den Augenblick in uns auf, die Bilder brennen sich in unsere Seelen.

2005